Sekretariatsöffnungszeiten: Mo - Do 07:30 Uhr bis 15:00 Uhr | Fr 07:30 Uhr bis 13:00 Uhr

E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann“

Ratings
(13)

"Es ist unmöglich, Märchen dieser Art irgendeiner Kritik zu unterwerfen“. Dichterfürst Goethe, der ansonsten stets „Maß und Mitte“ postulierte, konnte seinen Zorn gegen E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“ kaum beherrschen. Er verglich das Werk mit den „Verrücktheiten eines Mondsüchtigen“, sah darin die „fieberhafte[n] Träume eines leicht beweglichen kranken Gehirns“ und raunte gar, so ein Werk basiere womöglich auf dem unmäßigen „Gebrauch des Opiums“.

Auch andere Literaten der Hoffmann-Zeit waren nicht zimperlich in ihrem Urteil:

Der Romantiker Ludwig Tieck empfand die Erzählungen seines epochalen Mitstreiters Hoffmann fast durchweg als „fratzenhaft“, andere betrachteten sie als „degeneriert und pathologisch“. Sir Walter Scott sah in Hoffmann schlicht einen Fall für den Psychiater.

An die Dramatisierung dieses so aufwühlenden „Nachtstückes“ hat sich nun die Theatertruppe von Isabelle Stern herangewagt, nicht ohne einschlägige Warnungen an das Publikum: Das Werk werde „postdramatisch“ behandelt – was in der Akustik der fast vollbesetzten Aula heute so wie „posttraumatisch“ klingt. Ganz anders, als man es vielleicht erwarte, werde es sein, kündigt Regisseurin Isabelle Stern an. Womöglich werde die Aufführung streckenweise sogar „nerven“, warnt Michaela Deutschmann-Weise von der Schulleitung der Rhenanus-Schule.

Das Werk handelt von dem Studenten Nathanael, der zusehends die Fähigkeit verliert, zwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden. Der Tod seines Vaters löst in ihm ein Trauma aus, das um die Angst kreist, ihm könnten die Augen ausgerissen werden. Seine ebenso einfühlsam handelnde wie aufgeklärt argumentierende Verlobte Clara kann ihn nur zeitweise aus diesen Wahnvorstellungen herauslösen. Fatal wird es, wenn Nathanael sich in Olimpia verliebt, von der er sich ganz und gar verstanden fühlt, die tatsächlich jedoch nur ein Automat ist. 

Isabelle Stern und ihre Schüler/innen aus den Jahrgängen 10-13 setzen in ihrer Inszenierung die modernen Techniken des Figuren-Switching und des Figuren-Splitting ein: Die Darsteller können ihre Rollen wechseln, immer wieder andere Schauspieler verkörpern die Personen des Stückes. Auf diese Weise soll die herkömmliche Identifikation des Zuschauers mit den Figuren vermieden und der Fokus auf das Geschehen auf der Bühne gelegt werden.

In diesem Fall hat diese Technik womöglich aber auch noch zur Folge, dass die Zuschauer die zunehmende Verwirrtheit des Nathanael dank der ständigen Figurenwechsel durchaus nachempfinden können.

Zu dieser Atmosphäre trägt auch der Einsatz des antiken Chores bei, der das Handeln der Akteure kommentiert und begleitet. Moderne Inszenierungen misstrauen dabei der Sprache des Original-Textes, die sie häufig als ein sinnentleertes Kommunikationsmittel begreifen. Diesem Konzept folgt auch die „Sandmann“-Inszenierung: An die Stelle der bloßen „realistischen Nachahmung“ durch Text tritt ein Füllhorn theatraler Zeichen: Pantomime, Tanz, dramatische Musik (Tschaikovsky), mitunter aber auch schrille Geräusche (Türenquietschen) und das höllische Lachen der Akteure (sehr intensiv bei Bastian Hennemuth, Lennart Schulz und Helena Dingert). 

Ein Teddybär als Requisite deutet das geistige Verharren des Protagonisten in seiner Kindheitsphase an, die Öffnung einer Stuhllehne wird zum „Perspektiv“, dem magischen Fernrohr, durch das Nathanael den Automaten-Menschen Olimpia als ein liebreizendes Geschöpf wahrnimmt. Dazu wird geschickt ein Versatzstück aus der Lyrik der Romantik eingesetzt: Paul Apel rezitiert dabei nonchalant das Brentano-Gedicht „Der Spinnerin Nachtlied“. Dessen kunstvoll in sich kreisendes Klang- und Reimschema drückt Stillstand, Einsamkeit und die vergebliche Suche nach Harmonie aus – Empfindungen, unter denen gewiss auch der Protagonist Nathanael leidet.

Ein Geniestreich ist der Truppe bei der Konzeption der Frauenfiguren gelungen: 

Wenn Christian Kanngießer mit eckigen, steifen, scheinbar unbeholfenen Bewegungen erstmals die Bühne betritt, hält man ihn zunächst für den Automaten-Menschen Olimpia. Tatsächlich jedoch verkörpert er Nathanaels ausgeglichene und lebensfrohe Verlobte Clara, die sich doch eigentlich „wie ein richtiger Mensch“ bewegen sollte. So lebendig und natürlich aber tritt in dieser Aufführung nun gerade der Automat auf, dargestellt von Cora-Lee Paschke: Offenbar wird hier das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine in sein Gegenteil verkehrt. 

Claras bürgerliche und vernunftgeleitete Lebensanschauung wird durch diesen Kunstgriff als unnatürlich, inflexibel und erstarrt interpretiert. Demgegenüber kennzeichnen Schwung, Eleganz und Lebenslust ausgerechnet den Automaten. Food for thought.

Kein Wunder also, dass Nathanael sich unsterblich in Olimpia verliebt – sehr authentisch von Aaron Wesche und Cora-Lee Paschke dargeboten.

„Schon wieder so ein Verrückter!“, heißt es jedoch, wenn Nathanael erneut von seinem Trauma ergriffen wird und sich von einem Turm stürzt. „Wegschaffen!“, ruft die Menge.

Kommentiert wird dies mit den Schlagertext-Fetzen „Wahnsinn“ und „Hölle, Hölle, Hölle“.

An dieser Stelle greift die Handlung auch auf die Zuschauer über:  „Wir werden jetzt ins Publikum gehen und Ihren Puls messen“, heißt es  von der Bühne, „um festzustellen, ob unter Ihnen auch Automaten sind oder nur Menschen.“

Das Ergebnis lautet: „Unentschieden“.
Nicht voneinander zu unterscheiden aber sind die Maschinen und die Menschen im Publikum, wenn der Alptraum ein Ende hat: Es gibt stürmischen Beifall für alle Akteure und für Regisseurin Isabelle Stern. Hätte die Aula einen Vorhang, wäre er heute Abend wohl ein Dutzendmal gezogen worden. Den Darstellern ist anzumerken, wieviel Freude ihnen die Arbeit an dieser Inszenierung bereitet hat. Womöglich hätte sie sogar Hoffmanns Kritikern gefallen. 

 

  • Zugriffe: 431
Rhenanus-Schule
Im Huhngraben 2
37242 Bad Sooden-Allendorf
 

 

 

Telefon:
05652 / 95 888 0
FAX:
05652 / 95 888 0
E-Mail:       
info@rhenanus-schule.de